Die Macht der Atmosphäre: Wie verleihe ich Texten Stimmung?
Für den Schriftsteller ist Atmosphäre ein zentraler Begriff: Schaurige Atmosphäre ist nicht das Gleiche wie melancholische Atmosphäre, was wiederum nicht mit träger Atmosphäre zu verwechseln ist. Das atmosphärische, stimmungsvolle Erzählen trennt die Narration ja auch irgendwo vom (guten) journalistischen Bericht, von Einkaufszetteln und von allem Nicht-künstlerischen.
Dass eine bestimmte Anordnung von Buchstaben überhaupt diesen wechselwirkenden Raum zwischen den Emotionen des Lesers und der Erzählung selbst schaffen kann, ist faszinierend – aber wie kann man diesen Raum gezielt erfinden? Woher wissen Autoren, welche Atmosphäre ihr Text auslösen wird und wie lässt sich dieses Wissen erlernen?
Das magische Wissen der Schriftsteller
Der Autor eines atmosphärischen Textes saß offenbar (mit teilweise großen zeitlichen Abständen zwischen Verfassen und Lesen) einmal an einer Schreibmaschine, dachte an seinen möglicherweise erst Jahrhunderte später in Erscheinung tretenden Leser, und wusste, mit welchen Worten er ihm welche Art von Atmosphäre eröffnen würde.
Gernot Böhme impliziert in seinen Erläuterungen zur Atmosphäretheorie die Annahme, ein Poet (bzw. Künstler im allgemeinen) verfüge über erlernbares Wissen bezüglich der fixen Elemente und Mittel, mithilfe derer spezifische Atmosphären erzeugt werden können. Ein Segelboot, spritzendes Wasser auf leicht bekleideten Körpern, eine Flasche Bier und lachende Jugendliche bilden beispielsweise die spezifische Atmosphäre der Becks-Werbung:
Aber was soll das für eine Atmosphäre sein, die Becks-Atmosphäre? Man könnte allgemeiner frische Atmosphäre dazu sagen, oder abenteuerliche Atmosphäre… Ist die Atmosphäre dieser Werbung nicht abhängig von dem, der sie sieht? Erotische Atmosphäre würden Zuschauer vom älteren Schlag vielleicht sagen, während der abgehärtete Internetnutzer eine junge Frau im Bikinioberteil wahrscheinlich gar nicht mehr als erotisch wahrnimmt.
Außer Segelschiffen und spritzendem Wasser gehören – wie auch immer man die Atmosphäre des Clips nun benennen möchte – wahrscheinlich auch noch mehr Elemente dazu, die in der ersten oberflächlichen Aufzählung nicht genannt wurden. Gibt es also eine bestimmte Anzahl an Elementen, die vorkommen müssen, um eine Atmosphäre frisch zu gestalten? Muss immer ein Schiff dabei sein? Das theoretisierte Einüben verschiedener Atmosphären ist anscheinend nicht die Lösung für den Schriftsteller.
Kann man künstlerisches Talent erlernen?
Wie die tatsächliche Praxis des Künstlers aussieht, veranschaulicht Laurence Sternes Tristram Shandy: Tristram bewundert das rhetorische Talent seines Vaters, „der nicht einmal die Benennungen seines Handwerks kenne, [doch] so geschickt damit zu arbeiten verstehe“. Die einfache Erklärung an dieser Stelle wäre vielleicht wirklich das Talent. Ein angeborenes, instinktives Wissen um die Wirkung bestimmter Elemente.
Eine exaktere Erklärung könnte ein anderes Modell liefern: Gottscheds Modell zur poetischen Nachahmung der Natur postuliert unter anderem, der Poet „solle schreiben, als wenn er den Affect bei sich empfände“. Die Idee vom Atmosphären-Katalog, aus dem der Autor auswählt, steht diesem deutlich einfacheren Konzept gegenüber: Ein Künstler kann sich darin üben, subjektive Erlebniswelten mitzuvollziehen. Das gilt für den Musiker wie für den Poeten, den Fotografen oder den Architekten – je besser sie sich in andere einfühlen können, desto präziser können sie Figuren, Szenerien und deren Wirkung gestalten.
Egal, wie man Atmosphäre also verstehen möchte, der Künstler kommt nicht umhin, folgende Schritte zu durchlaufen:
- Wie soll der Leser sich fühlen? Wie soll er die Szenerie wahrnehmen? Welches Gefühl möchte ich als Leser erleben?
- Was weckt in X solche Assoziationen? (X ist hier als Variable für unterschiedliche mögliche Leser zu verstehen)
- Was assoziiere ich als Leser mit der Szenerie? Wie fühlt sich jemand, der das liest? Wie würde ich die Szenerie wahrnehmen, wenn ein Element verändert würde? usw.
Obwohl der Gedanke an atmosphärische Elemente, deren Hinzufügen oder Entfernen aus einem Werk die Atmosphäre eindeutig verändert, also hilfreich ist, ist das Wissen um dieses Handwerk in der Praxis nicht besonders nützlich (wie für Tristram Shandys Vater). Nützlicher scheint es, sich selbst und andere genau zu beobachten und eine Sensibilität für das Verhältnis zwischen Umwelt und Individuum zu entwickeln.
Artikel:
- Auflistung von Games mit besonderer Atmosphäre
- „How can I improve my Introspection Skills“
- Effektives Zuhören
Weitere Links:
- Atmosphärische Elemente im Film (YouTube)
- John Lockes Essay Concerning Human Understanding
- Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst
- Vorlesung von Böhme über die Atmosphäre
- Laurence Sternes Tristram Shandy (komplette Onlineausgabe)